Neuroplastizität des Gehirns – unsere lebenslange Lernfähigkeit

Die Neuroplastizität des Gehirns – unsere lebenslange Lernfähigkeit

Petra Schulze-Ganseforth

7. Dezember 2023

Die Entdeckung der Neuroplastizität oder auch neuronalen Plastizität, also der Eigenschaft des Gehirns, sich bis ins hohe Alter fortlaufend umzubauen, seine neuronalen Strukturen zu verändern, war eine entscheidende Erkenntnis in der Hirnforschung. Noch vor wenigen Jahren ging die Wissenschaft davon aus, dass das Gehirn eines Erwachsenen sich nicht mehr verändert. Inzwischen vergleichen einige Neurowissenschaftler das Gehirn sogar mit einem Muskel, den man trainieren kann.

Es geht hier um eine der wichtigsten Eigenschaften des Gehirns – seine lebenslange Lernfähigkeit. Inzwischen ist Vorstellung der lebenslangen Lernfähigkeit aus wissenschaftlicher Sicht unbestritten. Denn ohne diese Lernfähigkeit wäre der Mensch den vielfältigen Herausforderungen, denen er sich im Laufe seines Lebens stellen muss, gar nicht gewachsen. Das menschliche Gehirn besteht aus ca. 100 Milliarden Nervenzellen und einem Vielfachen an Kontaktpunkten, sogenannten Synapsen, über die die Nervenzellen miteinander verbunden sind und über die Informationen weitergeleitet werden können. Lernen findet an den Synapsen statt, also dort, wo elektrische Signale von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden. Dabei können Synapsen die Effektivität der Übertragung variieren, das nennt man synaptische Plastizität. Informationen werden im Gehirn in neuronalen Netzwerken gespeichert, und zwar werden häufig genutzte Verknüpfungen verstärkt und selten genutzte werden geschwächt oder sogar ganz abgebaut.

Wie profitieren wir davon, dass sich unser Gehirn lebenslang weiterentwickelt und wie können wir diese Fähigkeit aktiv nutzen.

Fähigkeiten, die regelmäßig gefordert werden, werden effektiver erledigt. Forschungen mit Londoner Taxifahrern haben ergeben, dass in ihrem Gehirn der Hippocampus, eine für das Ortsgedächtnis zentrale Region, im Laufe der Zeit größer wird. Ein gut trainiertes Orientierungsvermögen benötigt also offenbar mehr Platz. Ob Gehirnjogging aber tatsächlich die Lern- und Gedächtnisleistung, also die generelle Leistungsfähigkeit des Gehirns, steigert, wird von vielen Wissenschaftlern bezweifelt.

Die Neuroplastizität hilft dem Gehirn auch dabei, Schäden zumindest zum Teil zu reparieren. Wenn zum Beispiel durch einen Schlaganfall Nervenzellen absterben, können benachbarte Hirnregionen die Aufgaben des geschädigten Gebiets teilweise übernehmen.

Die neuronalen Netzwerke in unserem Nervensystem sind das Ergebnis unserer Erfahrungen und dessen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, entscheidet darüber, womit sich unser Denken beschäftigt und wie wir die Struktur unseres Gehirns formen. Je länger wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas richten und je emotional stimulierender es ist, desto mehr Neuronen werden aktiviert und vernetzen sich.

Der US-Amerikaner Prof. Jeffrey M. Schwartz prägte den Begriff der Selbstgesteuerten Neuroplastizität. Schwartz ist der Ansicht, dass wir lernen können, die Reaktionsweise unseres Gehirns gezielt zu verändern, indem wir unsere Aufmerksamkeit bewusst ausrichten. Nach Schwartz wählen wir aus, auf welchen Teil unserer Erfahrung wir uns konzentrieren und entscheiden, welche Teile uns packen und kontrollieren oder ob wir sie loslassen. Unsere Erinnerungen prägen unsere Erwartungen, unsere Stimmungen, unsere Strategien und unsere Glaubenssätze.

Wie können wir die natürliche emotionale Dominanz unserer negativen Erfahrungen überwinden und stärker von unseren positiven Erfahrungen profitieren und diese weiterentwickeln.

Die Selbstgesteuerte Plastizität stellt uns allerdings vor besondere Herausforderungen. Denn unser Gehirn reagiert laut Studien stärker auf negative, schmerzvolle Erfahrungen. Wir lernen dann also mehr! Unser Fokus ist von Natur aus schlicht zur Überlebenssicherung darauf ausgerichtet ist, das Negative rechtzeitig zu erkennen, um Gefahren rechtzeitig abschätzen zu können.

Die Neuroplastizität des Gehirns bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten, uns durch Coaching persönlich weiterzuentwickeln und unser volles Potenzial auszuschöpfen. Emotions- und Leistungscoaching nutzt die Fähigkeit des Gehirns, sich an veränderte Herausforderungen anzupassen und neue Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen zu bilden. Es geht darum, alte Gewohnheiten und Denkweisen zu überwinden, positive Veränderungen einzuleiten sowie neue Denk- und Verhaltensmuster zu entwickeln. Einengende Glaubenssätze können transformiert werden in solche, die einen stärken und dabei unterstützen, seine selbstgesteckten Ziele zu erreichen. In der Systemischen Aufstellung im Unternehmen (Team- und Organisationsaufstellung) kann man wichtige Erkenntnisse z.B. über Konflikte oder das eigene Standing bekommen. Belastende Erinnerungen können quasi überschrieben werden, z.B. durch eine Imaginative Familienaufstellung – ganz nach dem Motto Es ist nie zu spät eine schöne Kindheit gehabt zu haben. Übermäßige belastende Emotionen können bearbeitet werden und der Raum für angenehme Emotionen kann entstehen. So kann z.B. sogar dysfunktionale Prüfungsangst in Vorfreude auf die Prüfung, in der man dann endlich zeigen kann, wieviel man weiß und was alles in einem steckt, transformiert werden. Oder man kann die Prüfung als notwendige, aber machbare Hürde auf dem Weg zum eigentlichen dahinter liegenden Ziel begreifen. Man wird sich z.B. auf der Timeline seiner zur Verfügung stehenden Ressourcen bewusst und lernt, sie gezielt für die eigenen Ziele einzusetzen. Und wenn, um es mit Johann Wolfgang von Goethe zu sagen: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ das Thema ist, kann Teilearbeit zur Klärung beitragen.

Indem wir uns neuen Herausforderungen stellen, unsere Aufmerksamkeit gezielt ausrichten und uns neuen Erfahrungen öffnen, regen wir unser Gehirn dazu an, neue Verknüpfungen zu bilden und uns weiterzuentwickeln. Und das macht den Weg frei für ein glücklicheres Leben.